Lob der Ardèche
Die Ardèche ist auch heute noch so schön, dass nicht wenige es vorziehen, hier jung zu bleiben anstatt irgendwo anders alt zu werden.
All die, die ihrem Charme erliegen, haben es, wie in der Liebe, schwer zu erklären und sich zu erklären, warum sie sich hier so wohl fühlen.
Es handelt sich um ein poröses Universum, das mit seinen unzähligen Höhlen, Schluchten und Quellen bis hin zu dem unsichtbaren Strom, der unterhalb der Ardèche fliesst, dem menschlichen Körper ähnelt, der uns nah ist und zugleich fern.
Der Ardèchekörper besitzt eine doppelte Anziehungskraft. So sehr er das Auge des Spaziergängers erfreut, so sehr lässt er ein intensives, geschichtliches Innenleben erkennen.
Nachdem ich als Abenteurer hierhergekommen bin – kurz nach dem Mai 1968 -, habe ich mit grosser Erleichterung festgestellt, dass derjenige, der hier ist, um sein Leben anders zu leben, nicht alles neuerfinden, aufbauen, erobern muss. Es genügte, anzuknüpfen an das, was da war.
Diese Erde, die der Historiker Patrick Cabanel „la plus cultivée, la mieux aimée“ nennt, ist in der Tat auch hervorragend geeignet für die Suche nach dem bestmöglichen Leben.
Ein Territorium der hunderttausend Gärten, Seite an Seite, verbunden durch Bewässerungsrinnen hat eine ganz ausserordentliche Dichte entstehen lassen, wo die Kinder von einem Weiler zum anderen zogen, um ihre Feste zu feiern.
Wenn man allerorten das Genie und die Ausdauer sieht, mit denen 30 Generationen in 1000 Jahren gewirkt haben, nicht um zu produzieren oder für irgendeine Macht, sondern für eine authentisches Existenz, spürt man die vitale Kraft der Menschenwesen. Und lässt sich davon unweigerlich inspirieren bei der persönlichen Suche nach einem „handgemachten“ Leben.
Die Ardèche lässt sich nicht einordnen. Keine Industrie, keine nennenswerten kommerziellen Interessen. Keine einzige Schnellstrasse durchquert das Land. Somit ist es leicht und sogar angezeigt sich zu verlieren. Um sich zu finden mit Hilfe der unzähligen psycho-geographischen Bezugspunkte, die uns darauf hinweisen, dass es möglich ist, unser Schicksal auf konkrete Art und Weise selber zu bestimmen.
Was für eine liebenswerte Bevölkerung. Man sagt Ihnen guten Tag und gibt Ihnen die Hand. Und ein Spässchen ist niemals fern. Da ich aus einer wenig gastfreundlichen Region hierher gekommen bin, war ich am Anfang verunsichert wegen des forschenden Blicks, den ich unterwegs auf mich zog, wo doch nach meiner Meinung mein Fahrzeug alle Aufmerksamkeit verdient hätte. Erst Jahre später habe ich begriffen, dass unsere Ardèchebewohner nur die einzige Sorge haben, rechtzeitig die Insassen des vorbeifahrenden Autos zu erkennen, um ihnen ihren Gruss zu bieten.
Als junger Mann hatte ich erkannt, dass kein Rente weder am Anfang noch am Ende eines Lebens steht, das es zu leben gilt. Nachdem ich hier ein erstes Glück mit dem Anbau von Himbeeren gefunden hatte, habe ich mich der Ardèche der Baumeister zugewandt, bis ich in der Lage war, selber Gäste zu empfangen, die von weit her kamen. Ich werde den Besuch einer sehr angenehmen Amerikanerin nicht vergessen, die ohne nach dem Weg zu fragen zu mir gekommen war – auf der Suche nach Orientierung. Sie war kürzlich in Rente gegangen und Novizin in ihrem persönlichen Leben. Und dennoch hatte sie ein aktives und volles Berufsleben gehabt, denn sie war verantwortlich für dreihunderttausend Männer und Frauen, dem zivilen Corps der Armee der Vereinigten Staaten weltweit.
Ich bin meiner Intuition gefolgt, als ich im menschlichen Körper und seinem Wohlbefinden das Thema fand, das mir am besten der organischen, manuellen Ardèche zu entsprechen schien. Eine Entscheidung, die leicht zu verwirklichen war, da Anna von Frauen umgeben war, die mit ihrem oft sehr farbigen Werdegang als Reisende in Sachen menschliches Wohlergehen die Ardèche zu dem kosmopolitischsten Platz Frankreichs gemacht hatten. Sie waren Experten in diesem Feld und kreativ. Sie verstanden somit zu geben. Und sie waren frei. Vor drei Jahrhunderten waren es bereits die Frauen, die auf ihre Weise Reichtum schafften, als sie an Busen und Schenkeln die kostbaren Eier ausbrüteten, die die Seidenraupen hervorbrachten, und die so eine Epoche ins Leben riefen, die heute liebenswürdig das Goldene Zeitalter der Ardèche genannt wird.
Einmal sah ich in unserem Massageraum eine Frau von etwa 50 Jahren, die in Tränen aufgelöst war, die nicht versiegen wollten. Sie, die ohne Unterlass ihrer Familie gedient hatte, war zum erstenmal von aufmerksamen, einfühlsamen Händen berüht worden. Ein unwiderlegbarer Beweis, dass der Körper das Lebendige nicht vergisst, das uns ausmacht.
Die Ardèche verdankt ihre Existenz einer sensiblen menschlichen Erfahrung und macht sie möglich. Ich kenne kein Land, das vergleichbar die Entwicklung unserer Sensibilität begünstigt, die es zu öffnen gilt oder zu festigen, jedenfalls zu verfeinern.
Wenn Sie hier vom Weg abbiegen, um einen Pfad zu verfolgen, der von der Vegetation überwuchert ist, können Sie erstaunliche Entdeckungen machen. Intelligente Bewässerungssysteme aus Stein gebaut oder in den Fels geschlagen, wundervolle Terrassen gebaut auf dem Grund einer Schlucht oder auf einer Anhöhe, sagen wir im 19. Jahrhundert, wahrscheinlich von einem einzigen Mann. Prachtvolle Bauwerke, von denen eine starke Poesie ausgeht. Wir sind hier nicht im Wald von Retz, keine Andeutung eines Kunstwerks, sondern ewige Präsenz einzigartiger Realisationen, die vom gelebten Leben nicht zu trennen sind.
Kürzlich begegnete ich einer ehemaligen Bewohnerin des winzigen Weilers, in dem ich angekommen war. Ihre gesamte Familie stammte aus diesem Dorf. Auf meine Frage, ob es angesichts der Härte der Existenzbedingungen in der Welt von gestern auch Glück gab, antwortete sie ohne zu zögern: „Wir hatten zwei Kühe und waren reich“.
In der Welt von heute freut es uns, wenn sich bewahrheitet, dass der Wunsch nach Freiheit von allen geteilt wird. Somit ist jeder gut beraten, sich auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen, seiner eigenen. Zu tun, was Vergnügen bereitet und Vergnügen finden in dem, was zu tun ist.
Aus der Tiefe der Ardèche, der „Wiege der Wagemutigen“, dringen Resonanzen einer Lebenskraft an unser aufmerksames Ohr. Glücklich, wer dort findet, was seine sensible Vitalität nährt. Sie ist in der Lage, die Freiheit in der Dauer zu tragen und Band zu sein zwischen den Meschen.
Hier fliesst diese Vitalität aus reiner Quelle. Baden wir darin!
Holger Stephan, Le Mas Bleu, 11. Februar 2011.
Für Florian, Malte, Marco, Aline, Pascal.
www.fayetardeche.com
Die nächsten 3OO Jahre.
Die Konfiguration der Ardèche in Verbindung mit dem, was die Leute an Grandiosem daraus gemacht haben, bringt eine Körperlichkeit zur Anschauung, die uns zweifellos deshalb so fasziniert, weil wir in ihr unsere eigene suchen.
Die Körperlichkeit der Existenz ist vom Abenteuer des Lebens nicht zu trennen. Das wissen wir, wenn wir 17 sind oder 71. Dazwischen allerdings führt allzu oft der Geist die Regie, der mit seinem Dominanzstreben und der Neigung, sich in alles und jedes einzumischen, die Gewohnheit ausbildet, dem Körper eine nur noch dienende Funktion zuzuweisen. So beugen wir uns der Zeit, die vergeht.
Die Ardèche mit ihrem immensen Terrassengarten und der geglückten Menschengeschichte ist ein Resonanzboden für Menschen auf der Suche nach ihrer ureigenen Existenz. Natur und Kultur sind ineinander verwoben. Vernetzte Parzellen, geteiltes Wasser. Baukörper bäuerlicher Anwesen aus der Zeit des Zusammenwohnens von Menschen und Tieren, Dichte und Wärme eines gelebten Raums. Wo uns beim Umherstreifen das Privateigentum aufgehoben erscheint
Während die Rentabilisierung des Planeten, die uns einschliesst, ohne Ende alle Aufmerksamkeit und alle Anstrengungen auf sich vereint, entsteht widersprüchlich Platz für Lebenshaltungen, die uns in dem kleinen Raum, den wir bewohnen, über unsere Zeit hinaus zu befriedigen vermögen. In der Ardèche, diesem weissen Fleck auf der Landkarte moderner Beschäftigungen, ist bewahren und entwickeln eins.
Dieses Land, das so wenig ökonomisch und so vollständig unrentabel ist und sich dennoch bester Gesundheit erfreut,
stellt für den Gang der Weltwirtschaft gewiss keine unmittelbare Bedrohung dar.
Seine Bewohner allerdings, und vor allem die Jungen, lieben es.
So sehr, dass keine Versprechungen ferner Märkte sie zu locken vermögen.
Alles ist hier schon da.
Und da ist es kein Wunder, dass Passionen in Blüte stehen, die eine Idee von Reichtum nähren, bei dem niemand gewinnt. Passionen, die von einer Entschiedenheit getragen sind, die nahezu überall anders gründlich abhanden gekommen ist.
Da ist die Passion des Beherbergens, der die Überzeugung zugrunde zu liegen scheint, dass die Welt besser dastände, wenn die eine Hälfte die andere bei sich zu Besuch hat. Die meisten von uns kennen den Reiz, dem Ort an dem wir wohnen, einen zweiten, prächtigeren hinzuzufügen. Einen kleinen Palast der Entdeckung für einen unbekannten Gast, der wir uns selbst nicht sein können.
Ein verwandtes Phänomen ist das Aufblühen von Künsten, die tiefgründiger unser körperliches Wohlbefinden im Sinne haben
So wie vieles an Bedeutung verliert – und anderes gewinnt – sobald die Haut einen Hauch von Frühling spürt, vermögen es die Hände der Masseure einen Körper in seiner Ganzheit wiederherzustellen, der verlorengegangen war. Die menschliche Berührung stimuliert und bringt einen verborgenen Schatz in die Welt. Für diese Wohltaten, die den Körper wieder in das Bewusstsein heben, sind alle Menschen unterschiedlich bereit, aber gleich empfänglich.
Die Antriebskraft in beiden Fällen ist nicht der Wunsch, im privaten Bereich wiederherzustellen, was anderswo geopfert wird. Es geht um Spüren und Berühren, ohne dass das Leben merkwürdig abstrakt bleibt. Nicht um eine Verbesserung geht es, sondern um eine kreative Annäherung an das bestmögliche Leben.
In diesem Zusammenhang ist auch das Auftauchen von Schwärmen nach Winterende bemerkenswert. Auf Rädern oder in Booten folgen sie den gewundenen Strassen und Flussläufen. Im direkten Kontakt suchen sie die Fülle der Körperlichkeit.
Platz ist hier nicht zuletzt für die grossen Liebenden und einen uralten Traum:
Die Männer bauen und behüten ein aus Steinen gebautes Reich
– die Frauen setzen sich dazu in den lebendigsten Kontrast.
Erinnern Sie sich. Und sei es nur ein einziges Mal gewesen, dass Ihr Körper
durch die Berührung mit einem anderen in Schwingung geraten ist.
Was genau bewegt uns in einer sehr langfristigen Perspektive? Die Ardèche ist eine körperliche Welt für eine sinnliche Praxis.
Sie befreit von Illusionen und macht intelligent.
Sie ist das Territorium einer langsamen Zeit,
die Werkstatt eines langen Lebens.
Kein Bild hat sie abzuschaffen vermocht.
Holger Stephan Le Mas Bleu im April 2013
Holger Stephan 11. Mai 1942 – 12. März 2018